In den vergangenen Monaten regten sich in mehreren europäischen Ländern ausgedehnte Proteste gegen politische Entscheidungen, wie sie zuvor in dieser Intensität nur selten vorkamen. In Deutschland hatte das teure unterirdische Bahnhofsprojekt Stuttgart21 anhaltende Proteste hervorgerufen. In Spanien hat die Bewegung „Echte Demokratie jetzt!“ auf den Plätzen vieler Städte wochenlang gegen die Sparpolitik protestiert. In Griechenland gab es gegen die Sparpolitik massive, teilweise auch gewaltsame Proteste. All diese Proteste machen sichtbar, dass die Akzeptanz politischer Entscheidungen, nicht nur zu Lastenverteilungen und Verwerfungen der Finanzmarktkrise und Bankenrettungen, auf einer fragiler werdenden Grundlage steht. Mehr und mehr Menschen fühlen sich durch ihre gewählten politischen Entscheidungsträger nicht ausreichend vertreten. Politik der „repräsentativen“ Demokratie wird zunehmend als nicht repräsentativ empfunden. Vor diesem Hintergrund gewinnt die Einbindung der Bevölkerung in politische Entscheidungsprozesse immer mehr an Bedeutung. Mit Blick auf das neue Europa zählt daher zu den wesentlichen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts eine Weiterentwicklung der Demokratie durch Instrumente der direkt-demokratischen Mitentscheidung und der partizipativen Mitgestaltung.
1. Was ist die Europäische Bürgerinitiative?
Die EBI ermöglicht einer Million EU-Bürgerinnen und EU-Bürgern, ein Anliegen an die EU-Kommission zu richten und auf die offizielle Agenda zu bringen, indem sie die EU-Kommission im Rahmen ihrer Befugnisse zu Maßnahmen auffordern.[2] In der EBI-Verordnung[3] wurde festgelegt, dass eine EBI durch mindestens sieben Organisatoren aus mindestens sieben EU-Staaten eingeleitet wird. Sofern keiner der Ausschlussgründe[4] vorliegt, nimmt die EU-Kommission die Registrierung der EBI innerhalb von zwei Monaten vor. Danach kann mit der Sammlung der Unterstützungserklärungen begonnen werden. Die Unterstützungserklärungen müssen innerhalb von längstens zwölf Monaten gesammelt werden. Diese Unterschriften können frei, d.h. ohne Gang aufs Gemeindeamt bzw. Magistrat, und auch online mithilfe einer von der EU-Kommission bereitgestellten Open Source Software gesammelt werden. In mindestens sieben EU-Staaten muss eine Mindestanzahl an Unterschriften erreicht werden, die für Österreich momentan 14.250 beträgt.[5] Nach Einreichung der Unterschriften erstellt die EU-Kommission innerhalb von drei Monaten eine rechtliche und eine politische Stellungnahme. Medialer Höhepunkt des Verfahrens der EBI ist ein öffentliches Hearing im EU-Parlament, bei dem die Organisatoren der EBI ihr Anliegen vorstellen können und an dem sich auch die EU-Kommission beteiligen muss. Dieses öffentliche Hearing bringt für die EBI eine besondere mediale Chance, ihr Anliegen EU-weit bekannt zu machen.
Eine EBI erfordert über die Ländergrenzen hinweg ein koordiniertes Vorgehen und eine gemeinsame Kampagnenplanung von Organisationen, die sich mit dem Anliegen der EBI beschäftigen. Daraus können europaweite zivilgesellschaftliche Netzwerke zu verschiedenen Themenbereichen entstehen oder gestärkt werden. Die EBI trägt daher das Potenzial in sich, auf längere Sicht die Herausbildung einer europäischen Zivilgesellschaft zu unterstützen. EU-weite Kampagnen benötigen jedoch erhebliche Finanzmittel für die Werbung, Unterschriftensammlung und Koordinierung der nationalen Teilkampagnen. Die EU-Kommission hat es aber bislang abgelehnt, EBIs finanziell aus EU-Mitteln zu unterstützen. Dies steht in einem Spannungsverhältnis zur Politikfinanzierung der europäischen Parteien, für welche erhebliche EU-Mittel zur Verfügung stehen. Diese Problematik erkennend fordert der Verfassungsausschuss des Nationalrats eine EU-weit einheitliche Verbesserungen der Rahmenbedingungen für die EBI und hat die Bundesregierung aufgefordert, sich auf EU-Ebene u.a. für einen europaweit einheitlichen Kostenersatz einzusetzen.[6]
Mit der EBI wird erstmals weltweit ein derartiges Beteiligungsinstrument auf übernationaler Ebene geschaffen. Ihr unübersehbarer Schwachpunkt liegt - ähnlich wie beim österreichischen Volksbegehren - in dessen Unverbindlichkeit. Die EU-Kommission muss sich mit einer erfolgreichen EBI zwar auseinandersetzen. Es steht der EU-Kommission aber auch frei, die Anregung der EBI in keiner Weise umzusetzen. Es handelt sich daher auch nicht um ein direkt-demokratisches Instrument (bei dem die Bevölkerung selber direkt eine Sachentscheidung trifft), sondern um ein semi-direkt-demokratisches Instrument (bei dem eine Entscheidung über das Anliegen außerhalb der Befugnis der Bevölkerung liegt).
2. Warum widerspricht das Erfordernis eines Identitätsnachweises den Absichten und Wertungen der EBI-Verordnung?
Zur Frage, ob für eine Unterstützungserklärung einer EBI einen Identitätsnachweis („ID-Nummer“) angeführt werden muss, konnte im Zuge der Verhandlungen für die EBI-Verordnung keine einheitliche Regelung gefunden werden. Die EBI-Verordnung überlässt daher die Überprüfung der Unterstützungserklärungen sowie die Entscheidung für oder gegen das Erfordernis einer ID-Nummer den einzelnen EU-Staaten. Österreich hat sich - anders als Deutschland, Großbritannien, Belgien, Niederlande, Dänemark, Finnland etc. - dafür entschieden, für gültige EBI-Unterstützungen eine ID-Nummer (d.h. konkret die Reisepass- oder Personalausweisnummer) zu verlangen.[7]
Das Erfordernis der ID-Nummer hat auf die Praxistauglichkeit erhebliche Auswirkungen. Die Reisepass-Nummer wird von einem überwiegenden Teil der österreichischen Bevölkerung als eine private, datenschutz-sensible Nummer betrachtet, die an Private nicht weitergegeben wird. Erfahrungswerte aus dem Sammeln von Unterschriften für Petitionen o.ä. lassen erwarten, dass bis zu 90% derer, die vom Anliegen der EBI überzeugt wurden, bei ihrer Unterstützungserklärung die ID-Nummer nicht anführen würden und daher keine gültige Unterstützung abgeben würden. Mit dem Erfordernis der ID-Nummer wird daher den EBI-Organisatoren aufgenötigt, dass sie exorbitant höhere finanzielle und personelle Ressourcen einsetzen müssen, um dieselbe Anzahl an gültigen Unterschriften zu erreichen, die ohne Erfordernis einer ID-Nummer erreichbar wäre. Mangels Erstattung der Kosten für diese massiv erhöhten Ressourcenerfordernisse stellt dies eine massive Behinderung des Instruments der EBI dar.
Organisatoren einer EBI, insb. solche mit bescheidenen finanziellen Möglichkeiten, werden in Länder ohne ID-Nummer-Erfordernis ausweichen, wo gültige Unterschriften sehr viel leichter gesammelt werden können. Die unterschiedlichen Erfordernisse für gültige Unterstützungserklärungen in den einzelnen EU-Ländern stehen in einem unauflösbaren Wiederspruch zur Absicht der EBI-Verordnung in Erwägungsgrund 3, „dass für alle Unionsbürger unabhängig von dem Mitgliedstaat, aus dem sie stammen, die gleichen Bedingungen für die Unterstutzung einer Burgerinitiative gelten."[8] Der Entschließungsantrag des Verfassungsausschusses greift diese Problematik auf und fordert einheitliche Bedingungen für die Unterstützungbekundungen in allen EU-Staaten.[9]
Befürworter des Erfordernisses der ID-Nummer wenden ein, dass die Abfrage der ID-Nummer die Legitimität des Instruments der EBI stärke, weil die ID-Nummer eine zusätzliche Kontrolle gegen unrichtige Unterstützungserklärungen schaffe. Dem ist entgegenzuhalten, dass die EBI ohnehin kein starkes Instrument ist und nicht zu einem bindenden Referendum führt. Kann es denn ernsthaftes Ziel eines Bürgerrechts und eines semi-direkt-demokratischen Instruments sein, die Kontrollmöglichkeiten der Bürokratie über die Unterstützungserklärenden zu optimieren? Bürgerrechte zielen u.a. auch darauf ab, den Bürgerinnen und Bürgern Kontrollmöglichkeiten gegen staatliche Macht in die Hand zu geben. Mit dem Erfordernis der ID-Nummer würden jedoch die Rollen von Kontrollierenden und Kontrollierten umgedreht und verkehrt. Im Hinblick darauf ist es in Deutschland – anders als in Österreich – auch ausdrücklich verboten, eine elektronische Abfragemöglichkeit der ID-Nummer vorzusehen.[10]
Das Erfordernis der ID-Nummer erzeugt dabei als solches ein Sicherheitsrisiko, weil die Datensätze aufgrund der ID-Nummer für einen Datenklau ganz besonders attraktiv sind. Die Absicht des Erwägungsgrunds 2 der EBI-Verordnung, wonach die Bedingungen der EBI „dem Wesen der Burgerinitiative angemessen sein (sollen), um die Bürger zur Teilnahme zu ermutigen“ wird durch das Erfordernis der ID-Nummer konterkariert.
In Erwägungsgrund 13 der EBI-Verordnung wird die Möglichkeit der Abfrage einer persönlichen Identifikationsnummer ausdrücklich angesprochen, allerdings an eine klare Voraussetzung geknüpft: „sofern dies notwendig ist, um eine Überprüfung der Unterstützungsbekundungen durch die Mitgliedstaaten gemäß den einzelstaatlichen Bestimmungen und Verfahren zu ermöglichen." Genau diese Voraussetzung ist aber für Österreich nicht erfüllt, weil – genauso wie z.B. in Deutschland – bereits aus Vor- und Nachnamen, Geburtsdatum und –ort sowie Adresse eine Überprüfung der Unterstützungsbekundung möglich ist. Statt des Zentralen Pass- und Personalausweis-Registers (§ 3 Abs. 2 EBI-Gesetz) könnte für die Überprüfung der EBI-Unterstützungserklärungen nämlich auch auf andere zentrale Register des Bundes zurückgegriffen werden: Für Menschen, die in Österreich wohnhaft sind, kann die Überprüfung anhand des Zentralen Melderegisters erfolgen (§§ 16ff Meldegesetz). Für Auslandsösterreicher ist eine Überprüfung anhand der Zentralen Europa-Wahlevidenz möglich (§ 13 Europa-Wählerevidenzgesetz). Auslandsösterreicher müssen sich ohnehin für die Teilnahme an einer Europa-Wahl in der Europa-Wahlevidenz eintragen (§ 4 Europa-Wählerevidenzgesetz). Dies kann auch für die Teilnahme an einer EBI verlangt werden. Die Abfrage einer ID-Nummer ist somit in Österreich für die Überprüfbarkeit nicht notwendig und daher auch nicht durch die ausdrücklichen Wertungen und Absichten der EBI-Verordnung gedeckt. Den Aspekt einer fehlenden Notwendigkeit der ID-Nr. für eine Unterschriftenüberprüfung betont auch der Europäische Datenschutzbeauftragte in seiner Stellungnahme zum Vorschlag für die EBI-Verordnung.[11]
Es sollte nicht übersehen werden, dass nicht alle Österreicherinnen und Österreicher einen Reisepass oder einen Personalausweis haben.[12] Es gibt eine erhebliche Anzahl insb. älterer oder ärmerer Menschen, die aus gesundheitlichen, finanziellen oder anderen Gründen nicht reisen wollen und daher keinen Reisepass oder Personalausweis haben. Diese Personengruppe von einer Teilnahme an einer EBI auszuschließen, widerspricht Art. 11 Abs. 4 EU-Vertrag, wonach dieses Beteiligungsrecht allen Unionsbürgern zusteht, und dem Diskriminierungsverbot der EU-Grundrechtecharta und ist daher wohl EU-rechtswidrig.
§ 3 Abs. 2 EBI-Gesetz sieht vor, dass jede einzelne Unterstützungserklärung überprüft wird. Zu diesem Zweck wird eine eigene Datenbank angelegt. Demgegenüber spricht Erwägungsgrund 18 der EBI-Verordnung von der „Notwendigkeit, den Verwaltungsaufwand für die Mitgliedstaaten zu begrenzen“ und sieht vor, dass die Prüfungen der Unterstützungserklärungen „auf der Grundlage angemessener Überprüfungen, etwa anhand von Stichproben“ erfolgen sollen. Die penible Überprüfung jeder einzelnen Unterstützungserklärung stellt angesichts der Unverbindlichkeit der EBI einen unverhältnismäßigen Verwaltungsaufwand dar. Stichprobenüberprüfungen, wie sie z.B. in deutschen Bundesländern und in US-Bundesstaaten geübte Praxis darstellen, hätten hingegen geholfen, die administrativen Kosten für die EBI gering zu halten.
3. Was kann die Europäische Bürgerinitiatve von den österreichischen Erfahrungen lernen?
Das österreichische Volksbegehren weist strukturelle Ähnlichkeiten zur EBI auf. Bei beiden handelt es sich um eine sogenannte Agenda-Initiative, die ein Anliegen auf die offizielle Agenda setzt. In Österreich bestehen nunmehr beinahe 50 Jahre an Erfahrungen mit insgesamt 35 Volksbegehren. Die EBI könnte vor allem aus folgenden Aspekten des österreichischen Erfahrungshintergrundes lernen:
3.1 Europäische Bürgerinitiativen über EU-Vertragsänderungen
Das österreichische Volksbegehren steht auch dafür offen, Verfassungsänderungen vorzuschlagen[13] und wurde dafür auch mehrfach genutzt. Diese Offenheit auch für höherrangiges Recht kann und soll für die EBI zum Vorbild genommen werden. Die EU-Kommission vertritt nämlich aufgrund einer engen Wortinterpretation den Standpunkt, dass eine EBI eine Änderung der EU-Verträge nicht fordern darf.[14]
Diese Ansicht der EU-Kommission ist rechtlich fragwürdig, da die EU-Kommission mit dem Vertrag von Lissabon durch Art. 48 Abs. 2 EU-Vertrag[15] ausdrücklich die Möglichkeit erhalten hat, Änderungen der EU-Verträge vorzuschlagen. Außerdem stellt Art. 11 Abs 4 EU-Vertrag darauf ab, ob es „nach Ansicht jener Bürgerinnen und Bürger eines Rechtsakts der Union bedarf, um die Verträge umzusetzen“. Die „Ansicht jener Bürgerinnen und Bürger“ stellt eine politische Wertung dar, deren Überprüfung durch die EU-Kommission in Art. 11 Abs. 4 EU-Vertrag nicht vorgesehen und, auch im Lichte der EU-Grundrechtecharta, wohl nicht EU-Vertrags-konform ist.[16] Letztlich werden aber auch viele Vorschläge für EU-Vertragsänderungen eine Grundlage in den Werten[17] und Zielen[18] der EU finden. Die EU-Verträge einschließlich ihrer Werte und Ziele vertiefend umzusetzen, kann aber gerade auch eine Änderung der EU-Verträge erfordern.
Den Europäerinnen und Europäern wird nicht kommuniziert werden können, warum sie eine Änderung der EU-Verträge im Weg einer EBI nicht einmal unverbindlich vorschlagen dürfen. Es wäre daher wünschenswert, dass sich die EU-Kommission von dieser wenig Bürger_innen-freundlichen Rechtsansicht verabschiedet.
3.2 Parteibegehren
Die Praxis des österreichischen Volksbegehrens ist durch eine weitgehende Okkupation dieses Instruments durch Parlamentsparteien geprägt.[19] Häufig wurden Volksbegehren für eine Mobilisierung der eigenen Parteimitglieder im Vorwahlkampf genutzt. Häufig wurden Volksbegehren von Parlamentsparteien zur Fortsetzung ihrer Parlamentsarbeit eingesetzt. Daher überrascht es auch wenig, dass diese „Parteibegehren“ im Parlament – genauso wie dieselben parlamentarischen Anträge derselben Parteien – niedergestimmt wurden, was zugleich das Image der wirkungslosen Volksbegehren prägt und bestärkt. In der medialen Auseinandersetzung müssen sich jedoch alle Volksbegehren an den Unterschriftenzahlen orientieren, die mithilfe riesiger Parteiapparate erreicht wurden. Das österreichische Volksbegehren erscheint somit zu einem hohen Anteil als ein Instrument von Parteien für Parteien. Auf die Interessenlagen kleinerer Organisationen und Initiativen ist das österreichische Volksbegehren hingegen nicht ausgerichtet, was sich besonders am Euratom-Volksbegehren bestätigt hat. Das aus einem mehrjährigen Graswurzelprozess hervorgegangene Euratom-Volksbegehren ist mit ihren bescheidenen organisatorischen Möglichkeiten trotz der breitenwirksamen Atom-Thematik an der Schwelle für eine parlamentarische Behandlung gescheitert.
Für die EBI kann aus diesen österreichischen Erfahrungen die Lehre gezogen werden, dass sich eine Agenda-Initiative primär an jenen Gruppen orientieren soll, die keinen oder nur einen schwachen Zugang zu den politischen Entscheidungsträgern haben. Es wäre wünschenswert, wenn sich politische Parteien, die ohnehin über gute Möglichkeiten einer Einflussnahme verfügen, vom Instrument der EBI nur unterstützend im Rahmen breiter Allianzen, nicht aber als maßgebliche Trägerorganisation Gebrauch machen.
3.3 Keine Privatisierung demokratischer Infrastruktur
Die EBI-Verordnung überbürdet den Organisatoren einer EBI, die organisatorische Infrastruktur für Online-Unterstützungserklärungen bereitzustellen und auch für allfällige Rechtsverstöße zu haften. Zwar hat die EU-Kommission eine Open Source Software bereitgestellt. Diese in ihrer ursprünglichen Version nicht mängelfreie Open Source Software muss für eine Einsetzbarkeit zum Unterschriftensammeln zu einem Online-Sammelsystem ausgebaut werden. Dies verlangt von jeder einzelnen Organisatoren einer EBI einen beträchtlichen Ressourceneinsatz, auch wenn die Kosten für die Zertifizierung nicht den Organisatoren überbürdet wird.
Gegenüber diesem problematischen Ansatz einer Privatisierung demokratischer Infrastruktur verlangt der bereits erwähnte Entschließungsantrag des Verfassungsausschusses, dass „für auf elektronischem Weg abgegebene Unterstützungsbekundungen ein bei der Kommission angesiedeltes zentrales Online-Sammelsystem bereitgestellt wird“.[20]
3.4 Weiterentwicklung vom semi-direkt-demokratischen zum direkt-demokratischen Instrument
Wer nach erfolgreichen österreichischen Volksbegehren sucht, die auch tatsächlich umgesetzt wurden, wird in den 1960ern mit den allerersten drei Volksbegehren nach Inkrafttreten des Volksbegehrensgesetzes fündig.[21] Seither wurde ein einziges weiteres Volksbegehren auch umgesetzt,[22] wobei jedoch in den Gesetzeserläuterungen penibel vermieden wurde, jenes Volksbegehren zu erwähnen, geschweige denn den unverkennbaren Bezug herzustellen.[23]
Nach dem ursprünglichen Elan und der Begeisterung für Volksbegehren hat sich gegenüber dem Instrument des österreichischen Volksbegehrens inzwischen breite Ernüchterung eingestellt. Der erhebliche Ressourcenaufwand für ein Volksbegehren rechnet sich in den Augen vieler Organisationen und Initiativen nicht, da die Wahrscheinlichkeit einer politischen Wirksamkeit und eines ernsthaften Aufgreifens des politischen Anliegens sehr bescheiden ist. Es verwundert daher auch nicht, dass weitaus mehr Volksbegehren überlegt und angekündigt als tatsächlich durchgeführt werden.
Wenn es darum geht, eine Begeisterung für die EBI auf längere Sicht aufrecht zu erhalten, wird eine Lehre aus den österreichischen Erfahrungen darin bestehen, mit der logischen Weiterentwicklung der Agenda-Initiative nicht endlos zuzuwarten wie in Österreich. Bereits spätestens bei der ersten kontinuierlichen Evaluierungen der EBI sollte die Weiterentwicklung der EBI zu einem direkt-demokratischen Instrument mit bindender EU-weiter Volksabstimmung vorgeschlagen und in Angriff genommen werden. Das Koalitionsübereinkommen der aktuellen österreichischen Bundesregierung betont, für europaweite Volksabstimmungen einzutreten.[24] Es ist daher zu hoffen, dass sich die österreichische Bundesregierung für diese Weiterentwicklung der EBI einsetzen wird und auch ihr Recht gemäß Art. 48 Abs. 2 EU-Vertrag dafür nutzen wird, um einen entsprechenden Vorschlag vorzulegen und um ein Konventsverfahren zur Änderung der EU-Verträge zu beantragen.
4. Was kann das österreichische Volksbegehren von der Europäischen Bürgerinitiative lernen?
Mit der EBI wurde eine Art europäischer Mindeststandard für Agenda-Initiativen geschaffen. Es soll daher überlegt werden, welche Vorteile der EBI auch für das österreichische Volksbegehren übernommen werden können. Es wäre kaum erklärbar, dass auf der höheren komplexeren und weitaus umfassenderen EU-Ebene praxistrauglichere Regelungen möglich sind, dass Österreich aber weiterhin an Regelungen über das Volksbegehren festhält, die von Vielen als längst nicht mehr zeitgemäß und als wenig attraktiv empfunden werden. Es sollen daher zumindest folgende Regelungen der EBI auch für das österreichische Volksbegehren übernommen werden:
4.1 Freie Unterschriftensammlung
Unter dem Aspekt einer Verwaltungsökonomie ist eine freie Unterschriftensammlung erheblich kostengünstiger, weil der Aufwand für öffentliche Eintragungsbüros in sämtlichen Gemeinden wegfällt. Bei einer Stichprobenüberprüfung kann der Verwaltungsaufwand für frei gesammelte Unterstützungserklärungen gering gehalten werden. Eine freie Unterschriftensammlung macht die Agenda-Initiative aus der Sicht engagierter Initiativen und Organisationen praxistauglicher und attraktiver. Eine lebendige direkt-demokratische Praxis besteht durchwegs in jenen Ländern, die die freie Unterschriftensammlung kennen, weil dadurch die unmittelbare politische Diskussion unter den Betroffenen im öffentlichen Raum ermöglicht wird.
4.2 Online Unterschriftensammlung
Wenn für die EBI eine Online-Unterschriftensammlung möglich ist, ist schwer zu erklären, warum dies für die ähnliche Agenda-Initiative des österreichischen Volksbegehrens nicht ermöglicht wird. Auch für ein österreichisches Volksbegehren sollte Unterstützungserklärungen auch online möglich sein.
4.3 Längere Dauer der Unterschriftensammlung
Freie und Online-Sammlung machen die Begrenzung auf eine Unterschriftensammlung nur in den Amtsräumen und folglich auch die Begrenzung auf die sehr kurze Sammeldauer der Eintragungswoche obsolet. Die Dauer für frei gesammelte Unterstützungserklärungen sollte sich aber über die EBI hinausgehend an den 18 Monaten in der Schweiz orientieren, um auch kleineren Initiativen eine faire Chance zu geben, die zwar ein wichtiges Anliegen haben mögen, ihre Organisation aber erst während des Unterschriftensammelns aufbauen müssen.
4.4 Öffentliches Hearing als medialer Höhepunkt
Medialer Höhepunkt einer EBI ist das Hearing im EU-Parlament, an dem sich die Kommission beteiligen muss und wo die Organisatoren ihr Anliegen vorstellen können. Im medialen Mittelpunkt des Prozessdesigns der EBI steht somit Diskurs und die Auseinandersetzung mit Argumenten.
Bei österreichischen Volksbegehren liegt der mediale Fokus jedoch auf dem „Unterschriftensammel-Sport“ während der Eintragungswoche und auf einem Vergleich mit den Volksbegehren mit den höchsten Unterstützungszahlen, was kleinere Initiativen grundsätzlich benachteiligt. Deliberative und diskursive Aspekte sind im Prozessdesign des österreichischen Volksbegehrens hingegen weitgehend untergeordnet. Zwar sieht das Volksbegehrensgesetz schon jetzt ein Hearing im Ausschuss vor,[25] das ausnahmsweise auch öffentlich sein kann.[26] Dieses Hearing wird jedoch medial kaum beachtet.
Bei einem Wegfall von Amtssammlung mit Eintragungswoche soll die mediale Aufmerksamkeit auf eine deliberative und diskursive Auseinandersetzung zwischen Parlament und Organisatoren des Volksbegehrens im öffentlichen Hearing gelenkt werden. Um den Einsatz für ein Volksbegehren angemessen zu würdigen, soll im ORF-Gesetz eine verpflichtende Übertragung des Hearings verankert werden und dieses Hearing während der Hauptsendezeit angesetzt werden.
4.5 Keine Begrenzung auf Gesetze
Das österreichische Volksbegehren steht nur für den Bereich der Gesetzgebung offen, schließt aber Rechtsakte der Verwaltung aus.[27] Die EBI ist insofern weiter, als es auch für sonstige Rechtsakte zugänglich ist. Der Anwendungsbereich des Volksbegehrens sollte in diese Richtung ausgeweitet werden.
4.6 Kontinuierliche Evaluierung der Volksbegehren
Art. 22 EBI-Verordnung sieht eine kontinuierliche Evaluierung der EBI-Verordnung vor. Demnach legt die Kommission alle drei Jahre dem Europäischen Parlament und dem Rat einen Bericht vor. Eine derartige kontinuierliche Evaluierung aller Volksbegehren samt Schlussfolgerungen für künftige gesetzliche Verbesserungen soll auch im Volksbegehrensgesetz verankert werden, weil damit aus guten wie schlechten Erfahrungen eine kollektive Lernkurve sichergestellt wird.
5. Europäische Volksabstimmung
Um die erste Begeisterung für das neue Instrument der EBI nicht verpuffen zu lassen und in eine Frustration über deren Wirkungslosigkeit und Unverbindlichkeit umschlagen zu lassen, sollte der logische nächste Schritt möglichst rasch in Angriff genommen werden, die EBI von einem semi-direkt-demokratischen Instrument zu einem echten Initiativrecht mit anschließender EU-weiter Volksabstimmung auszubauen und zu vervollständigen.[28]
Mit politischem Mut wären auch schon nach gegenwärtiger Rechtslage EU-weite Volksabstimmungen möglich und könnten schon jetzt Erfahrungen mit EU-weiten Volksabstimmungen gesammelt werden, ohne zuvor das langwierige Verfahren für eine EU-Vertragsänderung bemühen zu müssen.[29] Dem EU-Gesetzgeber Rat und EU-Parlament steht es nämlich offen, in gültig beschlossenem Sekundärrecht eine Bedingung für das Inkrafttreten vorsehen. Daher könnten die EU-Gesetzgeber auch festlegen, dass eine EU-Verordnung oder eine EU-Richtlinie nur in Kraft tritt, wenn sie in einer EU-weiten Volksabstimmung eine mehrheitliche Zustimmung erhält. Für die weithin als Bürger-fern wahrgenommene EU würde sich dadurch die Möglichkeit eröffnen, einen breiten öffentlichen Diskurs über eine konkrete EU-Maßnahme zu führen und die Entscheidung darüber an die Bürgerinnen und Bürger zurückzugeben, um dadurch eindrucksvoll erfahrbar zu machen, dass die EU nicht nur kleinen politischen Eliten und Lobbies, sondern allen Unionsbürgerinnen und -bürgern gehört.